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#059

Motor-Fahrrad der Familie Storcksdieck

B98, Bauer-Werke Klein-Auheim, 1939

RadWerk Klein-Auheim, Sammlung Schulisch / Stadt Hanau

Mit 2,3 PS durch Klein-Auheim! Das Motor-Fahrrad stammt aus dem Eigentum der Familie Storckdieck. Der praktische Arzt Dr. Hermann Storcksdieck (1864-1930) und seine Frau Petronella (1878-1974) hatten vier Kinder: Maria (1905-2003), Thekla (1909-1996), Hedwig (1911-2006) und Hermann (1916-1994). Thekla war Pädagogin, Hedwig und Hermann führten die Arztpraxis ihres Vaters weiter.

Das Gefährt aus den 1930er Jahren konnte als Motorrad und als Fahrrad dienen. Es wurde überwiegend von Thekla Storcksdieck, der Grundschullehrerin, genutzt. Damals war es immer noch „unschicklich“, wenn eine unverheiratete Frau mit einem motorisierten Zweirad durch die Gegend brauste… So wurde das bei den Bauer-Werken in Klein-Auheim hergestellte „Stahlross“ wohl kurzerhand im Haus der Familie eingemottet, bis es 2018 beim Verkauf des Hauses wieder zum Vorschein kam. Dankenswerterweise konnte es in die Bauer-Sammlung von Jörg Schulisch übernommen werden und ist seit 2019 im „RadWerk – Kulturstätte am Main“ in der Gutenbergstraße 7 im Originalzustand präsentiert.

Theklas Schwester Hedwig Storcksdieck wäre am 20. Mai 110 Jahre alt geworden. Nach dem Besuch der Grundschule wechselte sie an die Höhere Töchterschule nach Hanau und legte 1930 in Offenbach ihr Abitur ab. Danach absolvierte sie eine Ausbildung zur Sozialhelferin in der Gesundheitsfürsorge in Aachen, zudem belegte sie einen Kurs zur Seelsorgehelferin. Ihren Beruf nahm sie aber aus politischen Gründen und christlicher Überzeugung nicht auf: „Nachdem ich meine Ausbildung dort abgeschlossen hatte, kehrte ich wieder nach Hause zurück. Aber ich wollte auf keinen Fall einen Sozialberuf im Staatsdienst ausüben. Man hörte damals schon viel Schlimmes von Zwangssterilisationen und ähnlichen Maßnahmen. Dem wollte ich in einem staatlichen Sozialamt nicht noch Vorschub leisten. Dies hätte mich sicherlich in beträchtliche Gewissenskonflikte gebracht.“

So wechselte sie auf eine Halbtagsstelle in einem katholischen Pfarramt in Offenbach. Dort engagierte sie sich durch Verteilen von kirchlichen Flugblättern gegen die Politik der NSDAP, wurde im Februar 1938 von der Gestapo verhaftet und erst im Juli, nach fünf Monaten, wieder aus dem Gefängnis entlassen. Im Herbst des gleichen Jahres konnte sie dennoch ihr Medizinstudium aufnehmen und promovieren. In ihrem Spruchkammerbescheid wird Hedwig Storcksdieck als eine in Klein-Auheim bekannte „Antifaschistin“ bezeichnet, die „aktiven Widerstand gegen die Nazi-Gewaltherrschaft geleistet“ habe. Nach 1945 war sie fast vierzig Jahre als Allgemeinärztin am Ort tätig und baute u. a. das örtliche DRK auf. Es ist davon auszugehen, dass sie das Motor-Fahrrad auch benutzte oder mit ihrer älteren Schwester Thekla ausfuhr.

Für technisch Interessierte noch ein paar Daten des Exponats. Marke: Bauer Klein-Auheim; Modell: B98; Baujahr: 1939; Motor: Sachs-Einzylinder-Zweitakt, Hubraum: 98 ccm; Leistung: 2,3 PS bei 2.500 Umdrehungen in der Minute; Höchstgeschwindigkeit: 60 km/h; Verbrauch: 2 Liter / 100 km; damaliger Verkaufspreis: 315 Reichsmark (plus 22,50 RM für die Beleuchtung).

 

StorcksdieckFoto: Motor-Fahrrad der Familie Storcksdieck, Fa. Bauer, Klein-Auheim 1939
(© RadWerk Klein-Auheim, Sammlung Jörg Schulisch / Magistrat der Stadt Hanau)