Hermann Nesselträger
Kürzlich haben wir das Augenmerk auf eine in Hanau geborene erfolgreiche Schauspielerin gerichtet: Rosa Albach-Retty. Heute tun wir dies für einen völlig vergessenen männlichen Kollegen: Jean Pierre Hermann Nesselträger. Er kam am 15. Dezember 1870 in der Grimm-Stadt zur Welt und starb 1932 durch Selbstmord.
Nesselträger, Sohn eines Friseurs, wurde in der wallonischen Gemeinde getauft, besuchte die städtische Realschule und ab 1880 das königliche Gymnasium in Hanau (HoLA). Eine Rolle als Melanchthon beim Hanauer Luther-Festspiel 1888 löste bei ihm den Wunsch aus, Schauspieler zu werden. Das Schulexamen ließ er sausen, nahm ab 1889 Schauspielunterricht in Frankfurt und tingelte als jugendlicher Held, Liebhaber sowie Charakterdarsteller übers Land. Es folgten u.a. Engagements in Bad Oynhausen (1889), Essen (1889/90), Augsburg (1890/91), Heidelberg (1891/92), Hanau (1891-93), Harzburg-Annaberg (1892), - 1893 leistete er seinen einjährigen Militärdienst -, Lübeck (1894), Wilhelmsbad (1894, nicht unser Wilhelmsbad!), Elbing (1895), Potsdam (1897), Bromberg (1898/1903), Hannover (1903/05) und am Großherzoglichen Hoftheater Karlsruhe (1905-09). Ab 1909 war er Ensemblemitglied des Residenztheaters Wiesbaden; in der Stadt heiratete er 1914 Marianne Plaum, Tochter eines Druckereibesitzers. Laut Wiesbadener Theaterzeitung fand er „im klassischen als auch im modernen Drama durch scharfe Charakterisierung und prägnante Darstellungsweise den Befall des Publikums und der Presse“.
1912 ist von ihm ein Gastspiel als „Oswald“ in dem Familiendrama „Gespenster“ von Ibsen im Hanauer Stadttheater am Paradeplatz (heute Freiheitsplatz) notiert. 1916 folgte der Umzug nach München an die dortigen Kammerspiele, von wo aus er 1917/18 auch an der Westfront zur Ermutigung der Soldaten auftrat. 1918 ist ein Gastspiel in Zweibrücken belegt, ab 1919 war er im Unionstheater und Schauspielhaus München engagiert. Im gleichen Jahr gelang ihm der Sprung ins Filmgeschäft: als Bildhauer Gregor Magnussen im Stummfilmdrama „Erdgift“ unter Regie von Paul Otto (nach Frank Wedekinds „Erdgeist“). 1920 bis 1925 folgten mehrere Stuart Webbs-Detektivstreifen („Der große Chef“, „Die Faust des Schicksals“, „George Bully“), 1929 „Eremit“ und „Bruder Bernhard“ bei Vera-Filmwerk Hamburg bzw. Emelka München (heute Bavaria). Bis 1928 ist er als Sprecher von vielen Hörspielen der „Deutschen Stunde“ im Münchner Radio / dem heutigen Bayerischen Rundfunk genannt.
Dann gab es offenbar einen Bruch in der Karriere oder ein persönliches Drama. Am 21. Februar 1932 erschoss sich Hermann Nesselträger in seiner Münchner Wohnung in der Agnesstraße. Das Deutsche Bühnenjahrbuch berichtet in einem Nachruf: „Wirtschaftliche Sorgen und die völlige Aussichtslosigkeit, wieder ein festes Engagement zu bekommen, haben den tüchtigen Künstler in den Tod getrieben“. Der Bayerische Rundfunk betrauerte „einen seiner echtesten Mikrophonkünstler, der im Hörspiel wie als Gestalter von Lyrik und Balladen Unvergessliches leistete“. Sein Grab auf dem Münchner Nordfriedhof wurde vor Jahren geräumt.
Bemerkenswert ist, dass sich vier Tage zuvor Otto Framer, eigtl. Emil Maria Freiherr von Aretin (*1889), auf dem Friedhof von Pasing erschoss, der ebenfalls Schauspieler an den Münchner Kammerspielen, Rundfunksprecher und Oberspielleiter des Münchner Radios war. Die beiden kannten sich. Vielleicht besteht ein Zusammenhang?
Was als „Objekt der Woche“ an dieser Stelle veröffentlicht wird, bedarf neben vorhandenem Wissen des Autors teils intensiver monatelanger Recherchen im Netz bzw. Bestätigungen mit Hilfe engagierter Kolleginnen und Kollegen wie befreundeter Geschichtsforscherinnen und -forscher. Im „Fall Nesselträger“ halfen die Stadtarchive in Hanau, München und Wiesbaden, das Historische Archiv des Bayerischen Rundfunks und Antonia Kolb in München, der wir mehrere Aufsätze im Neuen Magazin für Hanauische Geschichte verdanken. Auch an dieser Stelle: vielen herzlichen Dank für die wahrlich nicht selbstverständliche, stets tolle Unterstützung!
Die Verwendung der Texte ist nur mit Quellenhinweis gestattet. Das Copyright liegt beim Fachbereich Kultur, Stadtidentität und Internationale Beziehungen der Brüder-Grimm-Stadt Hanau / Martin Hoppe. Eine Print-Veröffentlichung der Reihe „Objekt der Woche“ ist in Vorbereitung.